Der Prozeß

Es ist ein herrlicher Morgen, der 19. April 1943, als die elf Angeklagten aus den einzelnen Gefängnissen in München geholt und mit dem vergitterten Polizeiwagen in den Justizpalast gebracht werden. Einige sehen sich zum ersten Mal nach der Verhaftung der Geschwister Scholl wieder, manche zum ersten Mal in ihrem Leben. Die Verhandlung ist ein Folgeprozeß zu dem am 22. Februar gegen die »Weiße Rose«, gegen die Geschwister Scholl und Christoph Probst. Diesmal hat man sich etwas mehr Zeit gelassen. Zwischen der Verhaftung und der Verhandlung der Geschwister Scholl lagen nur vier Tage. Kurt Huber hingegen hat schon zwei Monate in Untersuchungshaft gesessen, bevor es zum Prozeß kommt. Höchste Stellen planen diese Verhandlung genau. Sie haben Furcht, daß es sich bei der »Weißen Rose« um eine größere Verschwörung handelt und sie nur einige verhaftet haben. Es soll ein großer Schauprozeß werden. Sogar Eintrittskarten für die Zuschauer werden an hohe Würdenträger und sonstige Nazis verteilt. Die prominentesten Gäste sind Generalfeldmarschall Erhard Milch, der Oberbürgermeister von München, Karl Fiehler, der Infantriegeneral v. Kriebel, der Oberlandesgerichtspräsident Dr. Stepp sowie Generalstaatsanwalt Helm. Auf den Korridoren stehen viele Studenten, die den Angeklagten Sympathie entgegenbringen. Um die Wirkung der Uniformen zu erhöhen, ist ein kleiner Gerichtssaal gewählt worden, Nummer 216. Hier fand schon der Prozeß gegen die Geschwister Scholl und Christoph Probst statt. Die Angeklagten und ihre Verteidiger sitzen dicht zusammengedrängt. Uber dem Ganzen thront der Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler aus Berlin, neben ihm hohe Vertreter von Polizei und anderen NS-Organisationen.

Die Verhandlung beginnt um 9 Uhr. Man versucht, dem Ganzen den Schein einer »richtigen« Prozeßführung zu geben. Man hält sich an das Protokoll. Obwohl das Urteil ähnlich wie die Anklage klingt, gibt man den Angeklagten Gelegenheit, sich zu verteidigen. Nur das Gericht, vor allem Freisler, versucht noch nicht mal objektiv zu erscheinen. Während der Verhandlung trommelt er nervös mit den Fingern auf den Tisch. Er schreit, brüllt und gestikuliert wild mit den Armen, so daß man ihn vom zweiten Stockwerk bis auf die Straße hört. Von Professor Huber auf die Verletzung der Rechte der Angeklagten hingewiesen, entgegnet Freisler: »Wir brauchen kein Gesetz hier, Angeklagter Huber! Ich habe gar kein Gesetzbuch bei mir. Das ist nicht nötig.« An anderer Stelle des Prozesses ruft er in seinem grenzenlosen Zynismus aus: »Sie machen es sich leicht, Huber. Sie lassen sich hinrichten, und für Ihre Familie muß die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) aufkommen.«

Freisler eröffnet das Verfahren mit den üblichen Formalien. Darauf fragt er, wer die neu hinzugekommene angeklagte Studentin Katharina Schüddekopf verteidigen wolle. Als sich keiner meldet, bestimmt er den Pflichtverteidiger Dr. August Deppisch. Dessen Widerspruch wird ignoriert. Nachdem Deppisch dem Gericht die Genehmigung vom Volksgerichtshof zur Zulassung des Justizrats Rhoder als Wahlverteidiger vorgelegt hat, beginnt der Richter mit der Verlesung der Anklage. Kaum hat er von der »Schmier- und Flugblätteraktion« der »Weißen Rose« als Vehandlungsgegenstand geredet, springt Rhoder auf. Er grüßt das Gericht und erklärt, er habe von dem Inhalt der Flugblätter erst jetzt Kenntnis genommen. Da er sich außerstande sehe, als Deutscher ein solches Verbrechen zu verteidigen, lege er die Verteidigung nieder. Er bittet um Entbindung von dieser Pflicht und um die Würdigung seiner Gründe. Freisler findet offensichtlich Genugtuung, und Rhoder verläßt den Saal. Nun wird wieder ein Verteidiger gesucht. Aber auf die diesbezügliche Frage des Richters herrscht eisiges Schweigen. Schließlich meint Freisler: »Nun, so übernehmen Sie, Herr Deppisch, weiterhin die Verteidigung des Angeklagten Huber. Sie kennen doch den Sachverhalt, nachdem Sie doch als Pflichtverteidiger bestellt waren.« Auf den Widerspruch von Deppisch, die Unterlagen seien ihm nur ungenügend bekannt, da er die Verteidigung ja abgegeben habe, antwortet Freisler höhnisch: »Es wird schon gehen, ich werde alles, was noch von Bedeutung ist, vorlesen und Sie dürfen überzeugt sein, daß ich wahrheitsgemäß vortragen werde. «

Nach diesen Unterbrechungen fängt Freisler nochmal mit der Anklage an, indem er sinngemäß den Wortlaut der Anklageschrift wiedergibt.

Als erster wird Alexander Schmorell verhört. Es dauert eine Weile, bis er anfangen kann zu sprechen, da sich Freisler zuerst in minutenlangen Beschimpfungen ergeht. Aus dem Protokoll der vielen Verhöre weiß Freisler, daß Schmorell es abgelehnt hat, auf Menschen zu schießen. Auf des Richters Frage, was er denn dann an der Front getan habe, antwortet Alex:

»Mich um die Verwundeten gekümmert, wie es meine Pflicht als angehender Arzt ist.« Daraufhin brüllt Freisler ihn an, er sei ein Verräter. Da sich Schmorell auf seine russische Abstammung beruft, stellt ihm Freisler eine Frage auf russisch, die Schmorell blitzschnell beantwortet. Der Richter meint anerkennend : »Na, russisch können Sie ja«.

Als nächster wird Professor Kurt Huber vernommen. Aufrecht, furchtlos und ruhig bekennt er sich zu den Taten in der Anklageschrift; er versucht sorgfältig, eine Belastung anderer zu vermeiden. Immer wieder wird er von Freisler mit den Worten unterbrochen: »Keine politischen Tiraden!« Wie Dr. August Deppisch berichtet, hebt Kurt Huber einleitend die positiven Seiten des Nationalsozialismus hervor. Er lobt die Förderung der deutschen Wissenschaften und des Sportes. Auch die Sozialisierung der Wirtschaft billige er. Aber den Kampf gegen das Christentum – der Grundlage unserer Kultur -, verdamme er wie auch die Beeinflussung der Studenten durch die SS. Er hält die Rede, die er lange im Gefängnis vorbereitet hat. Professor Huber erklärt, er habe es als seine Pflicht angesehen, den Studenten in ihrem inneren Kampf zu helfen. Darauf Freisler: »Sie fühlen sich wohl als ein neuer Fichte? « Huber antwortet ruhig:

»Ich bin kein Fichte geworden, ich bin jetzt mehr.«

Das Flugblatt wäre in einer Verzweiflungsstimmung über Stalingrad geschrieben worden. Außerdem sei der Kernsatz: »Unterstellt Euch unserer herrlichen Wehrmacht« gegen seinen Willen gestrichen worden. Damit sei der Sinn entstellt und es nicht mehr sein Flugblatt. Als Schmorell dies später bestätigt, hält Freisler es für unglaubwürdig, da es nicht in den Akten des Verhörs steht. Kurt Huber meint, er sei beruflich überlastet gewesen, überhaupt erkenne er jetzt, daß das Flugblatt verfehlt gewesen sei, da es »die politische Forderung nach Revision der Staatsführung« nicht enthalten habe. Ein Entlastungsbeweisantrag des Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Karl Alexander v. Müllers, stößt auf taube Ohren.

Die nächste Vernehmung gilt Willi Graf. Durch seine offene, ruhige Art wirkt er mäßigend auf das Gericht und wird nicht so sehr wie seine Mitangeklagten durch Zwischenrufe gestört. Bei den Vorverhören hat er die Polizei bewußt falsch informiert; Freisler meint mit einem Lächeln: »Sie haben ja der Gestapo schöne Lügengeschichten aufgebunden, um ein Haar wären Sie herausgekommen. Aber wir sind doch schlauer als Sie.«

Einmal mehr kommt es zu einem Zwischenfall, als die drei genannten Studentinnen als neue Angeklagte noch dazukommen. Wieder werden Verteidiger gesucht. Um 12 Uhr ist dann Mittagspause. Während das Hohe Gericht zu Mittag speist, bekommen alle Angeklagten, die auch den ganzen Morgen in dem heißen, trockenen Saal gesessen sind, zusammen einen Liter Wasser zu trinken.

Nach einer Stunde geht die Vernehmung der übrigen Angeklagten weiter. Ein besonders erschütterndes Bild bieten die Jüngsten, die sechzehnjährige Susanne und der achtzehnjährige Hans Hirzel, die prompt in alle Fallen Freislers hineintappen. Bemerkenswert ist die Verteidigung Falk Harnacks. Er wird beschuldigt, defätistische Äußerungen gemacht zu haben. Darauf erklärt er, er habe gesagt, er befürchte, der Krieg sei verloren und man müsse sich mit den dann entstehenden Problemen auseinandersetzen. Denn Deutschland dürfe nicht untergehen. Freisler ist sichtlich beeindruckt.

Gegen Abend erteilt der Richter dem Reichsanwalt das Wort zur Anklage. Sinngemäß lautet diese gegen Professor Huber etwa so: Kurt Huber habe sich an der »Flugblatt- und Schmieraktion« der »Weißen Rose« beteiligt. Im einzelnen habe er das Flugblatt »Weiße Rose« weitergegeben, das fünfte habe er redigiert und das sechste geschrieben. Darin beschimpfe er den Führer, hetze die Wehrmacht auf und fordere zur Sabotage auf. Dies sei eindeutig ein Dolchstoßversuch. Wenn er gegen die Veröffentlichung gewesen sei, hätte er die Studenten denunzieren müssen. Kurt Huber habe sich als antinationalsozialistisch erwiesen, sowohl als Professor als auch in dem Flugblatt und damit versucht, junge Leute zu verführen. Auch seine Verzweiflung könne keine Entschuldigung für die Beschimpfung des Führers sein. Deshalb beantrage er die höchste Strafe: die Todesstrafe und die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit. Die Anträge gegen die übrigen Angeklagten lauten entsprechend der Anklageschrift ähnlich. Nach deren Verlesung wird den Verteidigern das Wort erteilt.

Der Pflichtverteidiger Dr. Deppisch führt folgende Argumente für Professor Huber an: Kurt Huber sei ein Philosoph von Weltruf und sehr wichtig als Leibnizforscher. Durch das viele Abstrahieren habe er wenig Sinn für die Wirklichkeit, sondern sei eher weltfremd idealistisch. Im Hauptteil seiner Rede wiederholt der Verteidiger nur, was Kurt Huber schon vorgebracht hat. Schließlich wird den Angeklagten die Erlaubnis zu einem Schlußwort erteilt. Kurt Huber weiß, wie das Urteil lauten wird. Angesichts des Todes wirft er noch einen Rückblick auf sein Leben: Seine wissenschaftlichen Werke seien weit bekannt gewesen. Er habe gut besuchte Vorlesungen gehabt und außerdem ein sehr gutes Verhältnis zu den Studenten. Sein Flugblatt sei kein Dolchstoßversuch, sondern ein Verzweiflungsschrei. Er schließt mit den Worten: »Ich wollte keine Gewaltanwendung, ich wollte nur Einsicht.« Kurt Huber hält sich bei seinen Ausführungen an Notizen.

Auch die übrigen Angeklagten sprechen ihre Schlußworte, bis sich der Gerichtshof gegen Abend zurückzieht. Während das Publikum den Prozeß heftig diskutiert, werden die Angeklagten in eine Massenzelle geführt. Obwohl einige sich keine Illusionen mehr über ihr Urteil machen, herrscht doch eine gewisse Spannung.

Gegen 21.30 Uhr werden alle in den Saal zurückgerufen. Das Gericht betritt den Saal. Freisler verliest im Namen des deutschen Volkes das Urteil. Als Hauptbelastete werden Kurt Huber, Alexander Schmorell und Willi Graf zum Tode verurteilt. Die übrigen Angeklagten erhalten wegen Feindbegünstigung, Unterstützung hochverräterischer Umtriebe und Mitwisserschaft von hochverräterischer Propaganda Zuchthaus- und Gefängnisstrafen zwischen zehn Jahren und einem halben Jahr. Im Urteil erfolgt eine ähnliche Begründung wie in der Anklageschrift. An und für sich ist der ganze Prozeß eine Farce. Es hat sich nichts an der in der Anklage schon vorgefaßten Meinung des Gerichts geändert. Außer dem Freispruch Harnacks, der zustane kommt, da die Gestapo hofft, auf die Fährte des übrigen deutschen Widerstandes zu kommen, sind die Strafen hart. Nun aber werden die Angeklagten gemeinsam im Gefängniswagen nach Stadelheim gebracht. Sie verabschieden sich ein letztes Mal.