Wolfgang Warner
Gedenkrede zu seinem vierzigsten Todestag
Hochverehrte Frau Professor Huber, verehrte Gäste, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir gedenken heute eines Mannes, dessen Namen zu tragen unsere Schule die hohe Ehre hat. Am 25. Juli 1965 hat von dieser Stelle aus unser unvergessener, allzu früh verstorbener Kollege Helmut Betz gewissermaßen die Taufrede für unsere Schule gehalten.
So wurde aus dem Realgymnasium Gräfelfing das Kurt-Huber-Gymnasium. Daß diese Namensgebung nicht nur eine Ehre, sondern zugleich Anspruch und Verpflichtung sein sollte, mögen die folgenden Ausführungen erkennen lassen.
In Bertolt Brechts Stück »Furcht und Elend des Dritten Reiches« gibt es eine Szene unter dem Titel »Rechtsfindung« – unsere Theatergruppe bringt sie dieser Tage zur Aufführung – in der in einem alltäglichen Kriminalfall während des »Dritten Reiches« von einem Amtsrichter in einer deutschen Stadt Recht zu sprechen ist. Die massiven politischen Einflussnahmen verschiedener Seiten und verschiedenen Inhalts zur Frage, welches Urteil wohl höheren Orts erwünscht sei, bringen den gefügigen Richter sehr schnell zur Verzweiflung, und neben der angelernten Leerformel »… urteilen nach bestem Wissen und Gewissen« entringt sich ihm der verräterische Ausruf : »Ich bin ja zu allem bereit!«
Wie schnell verschwindet die Strahlungskraft großer Ideen und Ideale, wenn diejenigen, die sie von Amtes wegen vertreten sollten, unter Druck gesetzt werden können. Und erschreckend zu sehen, wozu Menschen in Geschichte und Gegenwart bereit sind, wenn sie unter entsprechenden Druck, woher auch immer, gesetzt werden.
Walter Jens hat uns bei seinem Vergleich der antiken und modernen Tragödie gelehrt, daß die Gerichtsszene die eigentliche Urform der Tragödie auf dem Theater sei – einer fragt und einer gibt Antwort – und in der Tat, menschliche Tragödie – die Tragödie des Menschen – wird nirgends erschütternder gegenwärtig als in den großen geschichtlichen Gerichtsszenen, die uns überliefert sind. Und wer die Akten und Berichte vom Volksgerichtshofprozeß gegen Professor Kurt Huber studiert, kann kaum an der Vorstellung vorbeikommen, dass hier auf neue Weise die Tragödie des die Wahrheit liebenden, des philosophischen Menschen sich vor unseren Augen abspielt, die 2300 Jahre zuvor das Leben des Philosophen Sokrates in Athen beendet und gekrönt hat.
Nicht, um Kurt Huber in die Ferne der antiken Geschichte zu rücken, sei der Vergleich mit Sokrates gewagt, nein, gerade im Gegenteil, um einen der Großen unserer Geistesgeschichte in seinem Menschsein über alle verflossene Zeit hinweg in unser Leben hereinzuholen, ihn aus dem musealen Dasein des geschichtlichen Bildungsgutes durch Verinnerlichung im besten Sinne zu unserem
»Zeit-Genossen« zu machen, lassen wir unser geschichtliches Verstehenwollen eintreten in den Gerichtssaal, in dem der siebzigjährige Sokrates von seinen Athener Mitbürgern angeklagt, vor den Richtern stand. Die Ankläger warfen ihm vor, die Jugend zu verführen, sie dem Staat und den Göttern des Staates zu entfremden und somit ein todeswürdiges Verbrechen begangen zu haben. Und immer wieder neu kann man sich gefangennehmen lassen durch die Art und Weise, wie nach Platons Bericht Sokrates vor Gericht seine Sache verficht und auch angesichts des drohenden Todes keinen Schritt abweicht von den großen Überzeugungen, die er gelehrt und gelebt hat, wie er sich in klarer Selbstgewißheit seines unsterblichen Personenseins auf seine innere Stimme – sein Daimonion – beruft und in der bezwingenden Klarheit seiner Rede die vorgegebenen Rollen bei Gericht sich umkehren läßt: auf der Anklagebank sitzen in Wahrheit die Ankläger und Richter, deren Macht zwar weit, aber eben doch nur bis zur Pforte des Todes reicht, durch welche hindurch und über die hinaus des Sokrates letzte Rede weist, schließend mit dem Satz: »Nun aber ist es Zeit, um zu gehen, ich, um zu sterben, ihr aber, um weiterzuleben. Wer von uns aber zu dem Besseren hingeht, das ist allen verborgen, außer nur dem Gott«.
Aus dem Phaidon Platons wissen wir, daß Sokrates im Gefängnis noch mehrere Wochen auf seine Hinrichtung warten mußte, und wir vernehmen staunend, daß er diese Zeit philosophierend, freilich mit seinen Schülern, verbracht hat.
Sehr nahe scheint dieses Geschehen, sieht man auf die Parallele im Prozeßgeschehen gegen Kurt Huber bei aller Unterschiedlichkeit der geschichtlichen Situation. Von seiner Verhaftung am 27. Februar 1943 bis zu seiner Hinrichtung am 13. Juli sind fast sechs Monate verstrichen. Monate, in denen die Hoffnungen Kurt Hubers vor dem Prozeß am 19. April, mit einer Freiheitsstrafe belegt zu werden, so gering waren wie nach dem Urteil, einen Gnadenakt erleben zu dürfen.
Von heute aus gesehen möchte man auf die Geschichte und das Schicksal der Weißen Rose blickend und des Lebensopfers ihrer Mitglieder gedenkend die Worte Kurt Hubers anwenden, die er selbst auf sein großes Vorbild , Gottfried Wilhelm Leibniz, schauend formuliert hat: »Es gibt Augenblicke im Leben großer Menschen, in denen sie schicksalhaft, schlafwandelnd die unerwartetsten Entscheidungen für ihren Lebensweg treffen. Sie erweisen sich erst später und den Fernerstehenden als innerlich notwendig.« Der Tragiker Friedrich Hebbel drückt diesen Gedanken so aus: »Für jeden Menschen kommt einmal der Augenblick, in dem der Lenker seines Sterns ihm selbst die Zügel übergibt, nur das ist schlimm, daß er den Augenblick nicht kennt , daß jeder es sein kann, der vorüberrollt!«
Der Augenblick, zu dem sich ankündigt, wie das bisher – rein äußerlich betrachtet – unauffällige Schicksal Kurt Hubers sich anschickt, geschichtliche Dimensionen anzunehmen, läßt sich dokumentarisch symbolhaft ablesen an dem erhalten gebliebenen Vorlesungsverzeichnis vom Sommer 1942, in das sich Kurt Hubers Studenten zu seiner Vorlesung »Leibniz und seine Zeit« eigenhändig einzutragen hatten. Der Andrang zu dieser Vorlesung war so groß, daß der vorgesehene Platz auf dem letzten Blatt nicht mehr ausreichte. Am Rande des Blattes, quergeschrieben finden wir die Eintragung: Sophie Scholl, Philos. 1, Hans Scholl, 9. med. Ulm a.D. D.R.
Und so führen dann die Schritte der Geschwister Scholl und ihrer Freunde mit denen Kurt Hubers auf den gemeinsamen Weg zu den Taten der Weißen Rose, die wir alle, nicht zuletzt durch die Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt der letzten Jahre und besonders durch die Filme von Michael Verhoeven und Percy Adlon kennen.
Im Juni 1942 dann lernt Kurt Huber Hans Scholl auf einer Abendgesellschaft kennen, ohne zu wissen, daß er da den führenden Kopf der schon existierenden Weißen Rose vor sich hat. Und in den folgenden Monaten besuchen die Geschwister Scholl mit anderen Studenten häufiger die gastliche Gräfelfinger Wohnung des Professors und seiner unermüdlichen lieben Frau, Clara Huber, die von den Nöten des Kriegsalltages nur zu hart bedrängt, sehr mühsam tätig sein muß, um bei den heute unvorstellbar armseligen Einkommensbedingungen eines deutschen Hochschulprofessors, der nicht Parteimitglied war, mit rund 230, – RM im Monat auszukommen. Nicht des Freizeitspaßes wegen, sondern um den kargen Abendbrottisch etwas anzureichern, besucht Frau Huber oft den damals ergiebigen Himbeerschlag am Neunerberg in Gräfelfing, am Ende der Straße, die damals Ritter-von-Epp-Straße hieß, heute heißt sie Kurt-Huber-Straße!
Bei diesen Zusammenkünften kennt Kurt Huber schon einige der Flugblätter der Weißen Rose, aber er weiß noch nicht, daß Hans Scholl einer der Verf asser ist. Je bedrängender jedoch die Kriegslage wird, umso drängender spricht die innere Stimme im Herzen Kurt Hubers:
Man muß etwas tun!
So besucht er in heftiger innerer Erregung das Abschiedstreffen der Studenten, bevor Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf wieder an die Front fahren, um bei diesem Zusammen-sein auf die Notwendigkeit von aufrüttelnden Taten aufmerksam zu machen.
Zum Jahresende 1942, als der Name der Wolgastadt Stalingrad sich durch die Wehrmachtsberichte lähmend auf die Stimmung im Lande legt, entschließt sich Kurt Huber zur Aktion.
Dieser unbeirrbare Wille zur politischen Tat widerlegt alle Vorurteile von der spekulativen Weltabgewandtheit des philosophischen Träumers. Nein , der durch Philosophie Sehende, was die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Idealist ist, will durch geistige Tat – zunächst nicht durch revolutionären Umsturz – den Millionen Verblendeten die Binde von den Augen reißen. Welche Philosophie hat ihn sehend gemacht?
Wir müssen an dieser Stelle innehalten, um in freilich gebotener Kürze wenigstens zwei Grundlinien der Philosophie des Gottfried Wilhelm Leibniz nachzuzeichnen: denn nur von hier aus ist wohl wenigstens ahnungsweise zu verstehen, woher Kurt Huber die Kraft gefunden hat , bis zu seinem Tod an der Biographie Leibniz‘ zu arbeiten. Er hat sich mit ihm so weitgehend identifiziert, daß er, wie Clara Huber berichtet, gesagt hat: »Wenn es so etwas wie Reinkarnation gibt, dann war ich Leibniz!« So gesehen liest sich das Vorwort Kurt Hubers zu seiner Leibnizbiographie in einem besonderen Sinn, es wirft sein Licht auf ihn selbst zurück! Ich zitiere: »Die Darstellung verzichtet daher bewußt auf eingehende Werkanalysen, systematische Entwicklung der Lehre nach einzelnen Gebieten, den gelehrten Apparat von Anmerkungen und Nachweisen. Sie geht dem künstlerisch freien Werden und Wachsen der Gedanken aus einem unerhört reichen Leben nach, den Nöten und Drängnissen einer um lichte Klarheit ringenden Weltschau, die sich unter die strenge Zucht der Vernunft begibt, um die Fülle geschauten Lebens zu meistern. Der heroische, nie verzagende Kampf um die Sinnhaftigkeit des Weltganzen ist die philosophische Tat des großen Deutschen und Europäers in der Zeit tiefster Erniedrigung unseres Volkes, aus der wir zu schöpfen und zu lernen haben!«
»Kampf um die Sinnhaftigkeit des Weltganzen«!
Der Glaube an die Sinnhaftigkeit des Weltganzen durchpulst das gewaltige Gedankengebäude Leibniz‘, der aus seiner christlichen Glaubenshaltung heraus seine Denkkraft den Begriff der »prästabilierten Harmonie« entwickeln läßt. Ein Begriff, der ausdrücken soll, daß die aus dem Schöpferwillen eines gütigen Gottes geborene Welt zu denken sei als ein von Anfang harmonisches Ganzes von geistig-physischen Wesenheiten – Monaden genannt – die an – und übereinanderge-ordnet ihre letzte große Gesamtharmonie finden in der Weltmonade, in Gott! Aber nicht so, daß das individuelle Teilchen versinkt im Meer der anonymen Ordnung, sondern daß sich die Personalität der Weltmonade Gottes wiederfindet und erfüllt in der personalen Individualität des Menschen, die nun ihrerseits kraft ihrer Freiheit sich aufmacht, erkennend in den Weltenbau einzudringen. Ich zi-tiere aus Kurt Hubers Leibnizbuch S. 340: »Ins Innere des Weltenbaues und Weltenplanes also dringt nur die Tatsachenerkenntnis, soweit sie – von der einsichtigen Möglichkeitserkenntnis dau-ernd geführt – das wirklich Einmalige, die >Setzung< des Weltplanes bloßzulegen vermag. Das letzte und höchste Ziel aller wissenschaftlichen Erkenntnis ist die Aufhellung (nicht Vollerkenntnis) des einmaligen Sinnes unserer Welt, die Welt, in der wir leben und wirken müssen.
In den Mittelpunkt dieses schier unerschöpflichen Systems rückt darum mit fortschreitender Entwicklung folgerichtig weder Gott noch »die Natur«, und erst recht nicht das ideale Reich der bloßen Möglichkeiten in der Mathematik, sondern der Mensch als geschlossene und als die höchste unserem Erkennen zugängliche Individualität, mit ihm Geschichte und Anthropologie.«
Verehrte Zuhörer! Das ist sicher kein ganz einfacher Gedankengang, aber umso wichtiger, wenn man bedenkt, daß der Widerstand der Weißen Rose allererst ein geistiger Widerstand war, der die Grundposition des Menschseins im Auge hatte.
Es gibt nämlich andere, sehr faszinierende Ordnungsmodelle, in denen die Teilchen als Individualitäten untergehen oder auf den Staat hin formuliert, gefälligst unterzugehen haben: die vom Staat her organisierte Masse. »Masse ist die Vielzahl kontaktarmer Individuen« definiert Romano Guardini, und zur Hitlerzeit hieß das entsprechende pausenlos gebrauchte Schlagwort: »Du bist nichts, dein Volk ist alles!« Sichtbare Gewalt gewann solche geisttötende Ordnungsvorstellung vor allem auf den sogenannten „Reichsparteitagen« in Nürnberg mit ihrem imposanten Thea-terinszenarium. Und, erinnern wir uns: 1936 war Hans Scholl als Fahnenträger ausersehen worden , die Stammesfahne seiner Hitlerjugendeinheit nach Nürnberg zu tragen und sie in den riesigen Fahnenwald der anderen einzuordnen. Hier trat bei dem im christlich-protestantischen Elternhaus zu selbständig kritischem Denken Erzogenen und bis dahin für die scheinrevolutionäre Hitlerbewegung Begeisterten die Wende ein: die Leere und die Öde ständig wiederholter Banalformeln, die Uniformiertheit und Anonymität der Zahllosen; die Degradierung der Person zum namenlosen Teilchen einer manipulierten Masse ließen den freiheitsbewußten, dynamischen jungen Mann auf geistige Wegweiser stoßen, die ihn schließlich in die furchtlos die zentrale Bedeutung des Personalen betonenden Leibnizvorlesungen Kurt Hubers führten. Das war 1942. Der Zweite Weltkrieg hatte seinen Höhepunkt erreicht, er war über den Erdball hin wirklich zu einem Welt-Krieg geworden, wie Hitler und Göring stolz vor dem Volk verkündeten. Die Wirklichkeit des Bösen in der Welt war nicht mehr zu übersehen.
Leibniz war ein in den späten Jahren des Dreißigjährigen Krieges Geborener gewesen, auch er kannte sie, die Wirklichkeit des Bösen. Wie nimmt er diese Wirklichkeit auf in sein großes System von der Weltenharmonie? Wie sieht er das, was man in der Philosophiegeschichte das Theodizee-Problem nennt?
Da der allwissende, allgütige und allmächtige Gott aus allen möglichen Welten, wie wir nicht anders denken können, die beste ausgewählt haben muß, muß doch das unserer beschränkten Sehweise oft so überwältigend erscheinende Böse auch einen letzten positiven Sinn im Ganzen der Welt haben!
Ich zitiere aus Kurt Hubers Leibnizbuch: »Es gibt keine ernstliche Gegeninstanz, die uns an der bewundernden Schau dieses Zusammenhanges und Ineinandergreifens von allem mit allem auch nur an einer einzigen Weltstelle irre machen könnte. Und so muß auch das Alogische, das Nichtseinsollende, das >Übel< in der Welt in des Wortes weitester Bedeutung, in seiner Sinnlosigkeit als Einzelnes seine Sinnberechtigung für das Ganze haben. Ein uralter orphisch-pythagoreischer Gedanke von der Sinnhaftigkeit des anscheinend Sinnlosen am Phänomen der musikalischen Dissonanz verbildlicht, wird von Leibniz wie später von Schelling durch die Tiefen des Universums verfolgt. Das Zwecklose, Sinnwidrige und endlich das eigentliche Böse löst sich als Durchgangsdissonanz im Weltprozeß auf höherer Stufe zur reineren Harmonie, die nur das Gute selbst auf einer höheren Stufe der Entwicklung, der Bewußtheit sein kann.«
Der Hinweis auf die Symbolik von Harmonie und Dissonanz in der Musik ist schon für Leibniz, aber insbesondere für Kurt Huber kein beliebiges Symbol, sondern, man möchte sagen: praktisch-philosophisches Lebenselement, das in jedem einzelnen Menschen von Anfang und Wesen her mitklingt, in wirklich jedem Menschen, im Volk! Volksmusik! Das war für Kurt Huber ja gerade das Gebiet, auf dem er sich zuerst in der Wissenschaft einen Namen gemacht hatte, das ihn hier in Grä-
felfing mit Carl Orff zusammenführte. Früh schon hatte er, in den geliebten Bergen von Dorf zu Dorf wandernd, bei einfachsten Menschen Lieder gesammelt, erlebt und studiert, wie da die Har-monie der Welt in den Herzen der unverbildeten Menschen Ton wurde. Die Harmonie – aber auch die Disharmonie – der uns oft so eigenartig tragisch anwehenden Töne und Texte des echten Volksliedes! Da muß – schon 1938 – eine tiefe Ahnung für sein künf tiges Schicksal in ihm gelebt haben, im Zusammenhang mit dem Andreas-Hofer-Lied, das auf seinen Wunsch vor vierzig Jahren an seinem Grabe gesungen wurde und das wir nachher gemeinsam singen wollen.
Nach Kurt Hubers christlich-philosophischer Lebensauffassung hat der Mensch aber die geschichtliche Disharmonie, das Böse, nicht nur einfach hinzunehmen, sondern die Pflicht, aktiv für das Harmonisch-Gute einzutreten! Dazu fühlt sich Kurt Huber nun nach Stalingrad von der Stimme seines Gewissens leidenschaftlich aufgerufen.
Er verfaßt jetzt selbst das uns allen heute bekannte letzte Flugblatt der Weißen Rose. Daraus die folgenden Sätze: »… Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen des ganzen deutschen Volkes fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen.« Und weiter: »In einem Staat rücksichtsloser Knebelung jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen. HJ , SA und SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht. >Weltanschauliche Schulung< hieß die verächtliche Methode, das aufkommende Selbstdenken und Selbstwerten in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken. Und später: »Es geht um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit! Kein Drohmittel kann uns schrecken, auch nicht die Schließung unserer Hochschulen. Es gilt den Kampf jedes Einzelnen von uns um unsere Zukunft , unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewußten Staatswesen.«
Es soll hier nicht übergangen werden, daß es über dieses Flugblatt inhaltlich zu einem schweren Konflikt zwischen Kurt Huber und Hans Scholl gekommen ist. Kurt Hubers Hoffnung auf die macht-politische Wende im Reich ruhte auf seinem Vertrauen in das schließliche Eingreifen der traditionsbewußten deutschen Wehrmacht zugunsten der Erneuerung eines ständisch gegliederten konservativen Rechtsstaates auf moralphilosophisch integerer Basis. Hans Scholls demokratische Vorstellungen erweckten in ihm eher den Verdacht kommunistischer Mobilisierung der Massen, was er zutiefst ablehnte. »Da kommen wir ja vom Regen in die Traufe«, soll er gesagt haben. Und so fand Hans Scholl in dem von Kurt Huber verfaßten Text den Satz:
»… folgt unserer herrlichen Wehrmacht.. .« Das konnte Hans Scholl, der Soldat von der Ostfront, nicht so stehen lassen. Er hatte den moralischen Sündenfall auch der Wehrmacht im Osten schon mit eigenen Augen gesehen: Wehrmachtsverbrechen als Konsequenz solcher Befehle wie etwa dem folgenden des Generalfeldmarschalls von Reichenau: »Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kmpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee. Deshalb muß der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben.« Hans Scholl strich den Satz von der »herrlichen Wehrmacht« und Kurt Huber wollte danach das Flugblatt nicht mehr als sein eigenes anerkennen. Er wußte natürlich, daß realistisch betrachtet, ohne die Hilfe der Wehrmacht ein Umsturz in der gegebenen Situation nicht mehr durchzuführen war. Es ist jenes Flugblatt , das dann im Lichthof der Universität von Sophie und Hans Scholl abgeworfen, das Ende der Weißen Rose herbeigeführt hat.
Bei der Verhandlung am 19. April in seiner Verteidigungsrede stellt sich Kurt Huber schützend vor seine mit ihm angeklagten jungen Freunde, Hans und Sophie waren ja schon tot: »Ich bitte und be- schwöre Sie in dieser Stunde, diesen jungen Angeklagten gegenüber im wahren Wortsinn schöpferisch Recht zu sprechen, nicht ein Diktat der Macht, sondern die klare Stimme des Gewissens sprechen zu lassen, die auf die Gesinnung schaut, aus der die Tat hervorging. Und diese Gesinnung war wohl die uneigennützigste, idealste, die man sich denken kann: Das Streben nach absoluter Rechtlichkeit, Sauberkeit, Wahrhaftigkeit im Leben des Staates.«
In dieser Stunde vor dem Volksgerichtshof wächst der bescheidene Mann zu seiner wirklichen inneren Größe empor, die auch in der steigenden Kraft seiner Stimme hörbar wird, und er findet nun von Leibniz zu Kant, dem in seiner Sicht neben Leibniz »anderen kongenialen deutschen Denker« , dem er vorher eher ferner stand: »Ich habe mich im Sinne von Kants kategorischem Imperativ gefragt , was geschähe, wenn diese subjektive Maxime meines Handelns ein allgemeines Gesetz würde. Darauf kann es nur eine Antwort geben: Dann würde Ordnung, Sicherheit und Vertrauen in unser politisches Leben wieder zurückkehren. Jeder sittlich Verantwortliche würde mit uns die Stimme erheben gegen die drohende Herrschaft der bloßen Macht über das Recht, der bloßen Willkür über den Willen des sittlich Guten. Das war es, was ich wollte, mußte. « …
Wie 2300 Jahre zuvor Sokrates verkehrt Kurt Huber die Rollen dieses Prozesses, und manchem unter den bestellten Zuhörern mag dann doch gedämmert haben, wer in Wahrheit hier wen anklagt, wenn Kurt Huber fortfährt: »Ich habe das eine Ziel erreicht, diese Warnung und Mahnung nicht in einem privaten kleinen Diskutierklub, sondern an verantwortlicher, an höchster richterlicher Stelle vorzubringen. Ich setze für diese Mahnung, für diese bescheidene Bitte zur Rückkehr mein Leben ein.«
Sokrates hatte sich die Kraft zur Sicherheit seines Auftretens vor dem Athener Volksgericht aus dem unbedingten Vertrauen in die Sicherheit seiner »inneren Stimme« geholt. Kurt-Huber fährt fort:
»Die innere Würde des Hochschullehrers, des offenen mutigen Bekenners seiner Welt- und Staatsanschauung kann mir kein Hochverratsverfahren rauben. Mein Handeln und Wollen wird der eherne Gang der Geschichte rechtfertigen; darauf vertraue ich felsenfest. Ich hoffe zu Gott, daß die geistigen Kräf te, die es rechtfertigen, rechtzeitig aus meinem eigenen Volk sich entbinden mögen. Ich habe gehandelt, wie ich aus einer inneren Stimme heraus handeln mußte. «
Da nennt er sie selbst, diese innere Stimme, die ihn in die Pflicht nimmt, aus dem Anspruch des kategorischen Imperativs und sei es mit dem Opfer des eigenen Lebens.
Im Laufe der Verhandlungen hatte der todeswütige Blutrichter Roland Freisler mit dem perfekten Hohn seines brutalen Banausentums den seiner Macht ausgelieferten angeklagten Philosophen ge-fragt: »Kennen Sie Fichte?«
Kurt Huber rettet dann auch noch in seinem Schlußwort Johann Gottlieb Fichte aus den Fängen derer, die das Wort »Am deutschen Wesen soll dereinst die Welt genesen« in die den europäischen Boden zerstampfenden deutschen Nagelstiefel hatten rutschen lassen, und er individualisiert den allgemeinen ethischen Anspruch Kants in den Satz desjenigen deutschen Denkers, der den Akt des freien Denkens als die zentrale Tat-Handlung des menschlichen Ichs entdeckt hatte:
»Und handeln sollst du so,
Als hinge von dir und deinem Tun allein
Das Schicksal ab der deutschen Dinge
Und die Verantwortung wär‘ dein!«
Nach der Verhandlung am 19. April 1943 findet sich Kurt Huber in der Vereinsamung seiner Todeszelle in München-Stadelheim wieder. Die Parallele zum Schicksal des Sokrates kommt ihm selbst zum Bewußtsein. Wie Inge Köck berichtet, hat Kurt Huber im Gefängnis die Stelle im 2. Band seiner Leibnizausgabe selbst eingemerkt, in der Leibniz auf die Situation des Sokrates vor seiner Hinrichtung hinweist.
Diese Zeit des zehrenden, quälenden Wartens auf die Hinrichtung unter den unsäglichen Sorgen um seine Familie und ihr künf tiges Schicksal verbringt Kurt Huber arbeitend, philosophierend.
Wahrhaftig, das ist keine philosophische Theorie mehr, wenn sich so der Mensch als geistiges Ich arbeitend, im lebendigen Denk-Akt verwirklicht, realisiert und so seine Unsterblichkeit nicht nur wie Kant postuliert oder wie Fichte vordenkt, sondern im Angesicht des Todes existenziell erfährt. Da wird dann Wahrheit lebendiger Geist und aus diesem Geist heraus darf Kurt Huber vom Gefäng- nisgeistlichen auf Fichte angesprochen sagen: »Ich bin jetzt mehr als Fichte!« Schon am 4. April hatte er an seine Familie geschrieben: »Heute habe ich ein großes Kapitel der Volksliedforschung abgeschlossen. Arbeiten ist das einzige, was ich für Euch tun kann, und ich arbeite gerne und dauernd . . .« .
So arbeitet er nach wie vor der Verurteilung ungebrochen und ungemein schöpferisch weiter an der Liederforschung, an einer musikalischen Vokaltheorie, an seiner geliebten Leibnizbiographie. Und mitten im Satz auf dem Blatt vom 13. Juli 1943 bricht es ab – er wendet sich an seine Lieben: »Mitten in der Arbeit für Euch hat mich heute die Nachricht erreicht, die ich längst erwartete.« Und später: »Weint nicht um mich, ich bin glücklich und geborgen. Die Alpenrosen, Euer letzter lieber Gruß aus den geliebten Bergen, stehen verblüht vor mir. Ich gehe in zwei Stunden in die wahre Bergfreiheit ein, um die ich ein Leben lang gekämpft habe. «
Und der letzte Bleistifteintrag kurz vor seinem Hingang:
»Liebste, einen letzten tapferen Schluck des edlen Portweins trinke ich auf Euer Wohl und auf das Wohl unseres geliebten Vaterlandes.«
Mit diesen Worten ist Kurt Huber schon mit über den Tod hinausreichendem Bewußtsein denen zur Hinrichtungsstätte gefolgt, die immer, wie jener Amtsrichter bei Brecht, zu allem und sei es das Gräßlichste, bereit sind . Im Tode hat er Zeugnis abgelegt für die über alle biologische Existenz hinausreichende Würde des Menschen.
Hier ist es wohl am Platze, auf den Artikel 1 unseres Grundgesetzes hinzuweisen:
Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt!
Wie das in der je gegebenen konkreten geschichtlichen und persönlichen Situation zu verwirklichen ist, darüber gehen freilich die Ansichten weit auseinander.
1968 zum Beispiel haben Studenten bei einer Gedenkfeier zu Ehren der Geschwister Scholl und Kurt Hubers aus ihrer Protestsituation heraus den verehrungswürdigen Vater der Geschwister Scholl, Herrn Robert Scholl, am Reden gehindert. Diese Szene wurde im Fernsehen übertragen, und die Scham über diesen Vorgang hat mir wie manchem anderen die Feder in die Hand gedrückt, um Robert Scholl das Mitgefühl auszudrücken. Ich darf eine Passage aus seinem Antwortbrief an mich hier vorlesen: »Ich habe Verständnis für die gärende Unruhe unserer Jugend. Leider schadet ihrem Begehren eine Minderheit. Es sind oft Neurotiker und Psychopathen, die in einer aufregenden Stunde oder infolge eines besonderen Ereignisses zügellos werden. Schuld an der Unruhe unserer Jugend sind m.E. die Väter und Großväter, die weder durch das durch den 1. Weltkrieg verursachte Leid, noch aus der furchtbaren Hitlerherrschaft und dem II. Weltkrieg etwas gelernt haben und durch ihr Vertrauen auf Macht und Gewalt auch vor dem III. Weltkrieg nicht zurückschrecken würden, also bereit wären, auch die heutige junge Generation, ja sogar die ganze menschliche Kultur zu opfern. Da ich mit meinen 77 Lebensjahren gewiß auch zu den Großvätern, den Alten, zähle, stemme ich mich gegen so manche Unehrlichkeit, die unsere Parteipolitiker aus Erkenntnisunfähigkeit oder aus Furcht vor Tabus ausstrahlen. Natürlich ist die Jugend nicht gescheiter als die Alten. Sie spürt aber instinktiv, daß manches in unserer Politik und Gesellschaft nicht stimmt.
Ich habe neun Enkel und spüre von ihnen her so manches. Kürzlich stand mein zweitältester Enkel (Abiturient) vor der Musterungskommission. Da fragte der Offizier der Kommission nach dem Familiennamen der Mutter. Als mein Enkel den Namen Scholl sagte, erklärte der Offizier, es sei doch eine Schweinerei gewesen, wie sich die Studenten bei der Gedenkfeier der Münchner Universität benommen hätten. Die Antwort meines Enkels (sein Vater ist höherer Richter): > Die hatten ganz recht. Sie sollen nur demonstrieren. <
Das ist der Geist eines Teils der heutigen Jugend .«
Soweit Robert Scholl. So kann man das sehen; man kann es aber auch anders hören aus dem Kreis der Überlebenden und Nachfahren der Weißen Rose, wie der Streit um den Nachspann zu Michael Verhoevens Film gezeigt hat.
Wie würde es Kurt Huber heute sehen? Ich maße mir die Antwort im einzelnen nicht an. Aber dessen bin ich sicher: Er würde in Wort und Tat für die Freiheit eintreten , die unser Grundgesetz uns garantiert, würde sich jeder Einschränkung dieser Freiheiten namens der Menschenwürde widersetzen und würde im Wirken für die Erhaltung des Friedens angesichts der heutigen Weltlage jeden Menschen zur freien Gewissensentscheidung in seinem alltäglichen Tun mahnen, und ich hoffe, er wäre mit der Abwandlung jenes Fichtewortes einverstanden:
Und handeln sollst du so,
Als hinge von dir und deinem Tun allein
Das Schicksal ab der Menschheitsdinge
Und die Verantwortung wär‘ dein!
Verehrte liebe Zuhörer! Ich habe meine Rede begonnen mit einer Szene aus einem der Stücke Bertolt Brechts. Mit einer anderen Szene will ich schließen. Brecht schrieb in seinem Hörspiel »Das Verhör des Lukullus« eine Szene, in der der große Feldherr Lukullus nach seinem Tod im Schattenreich vor den Toten Richtern des Schattengerichtes steht. Er wird aufgefordert, einen Fürsprecher aus dem Reiche der Seligen zu benennen, der die Größe seiner Taten im Leben bezeu-gen kann. Lukullus verlangt die Ausrufung des großen Alexander von Makedemon. Dreimal klingt der Name Alexanders des Großen im Reiche der Seligen auf, niemand meldet sich. Lukullus wird mitgeteilt: Im Reiche der Seligen ist kein Alexander von Makedemon!
Es mag wohl sein, daß der Name mancher Schlagzeilengröße der vergangenen und der gegenwärtigen Weltgeschichte im Reiche der Seligen ebenfalls ohne Echo bliebe. Ich bin aber zuversichtlich, daß jeder, der das Recht hätte, Kurt Huber dort zur Zeugenschaft anzurufen, in ihm einen großen Fürsprecher fände!
