Am 27. Februar 1943 wird Kurt Huber schließlich geholt. Um halb sieben Uhr morgens klingelt es, und seine 13-jährige Tochter öffnet der Gestapo die Tür. Schnell läuft Birgit zum Bett ihres Vaters, weckt ihn und flüstert ihm zu, die Gestapo sei da. Bei einer Durchsuchung finden die Beamten die gesuchten Briefe nicht. Dafür nehmen sie Professor Huber mit. Dieser packt seine Sachen zusammen und verabschiedet sich von seiner Tochter. Es ist das letzte Mal. Er wird Heim und Kinder nicht wiedersehen. Die Tochter erzählt der später heimkehrenden Mutter von den Geschehnissen und fügt hinzu: »Jetzt werden sie den Vadder köpfen, genau wie sie es mit den anderen gemacht haben.« Aber Frau Huber weigert sich, diese grausame Wahrheit zu begreifen oder zu glauben. Sofort sucht sie bei befreundeten Rechtsanwälten Rat. Da deren Söhne aber gerade in Rußland gefallen sind, können sie ihr auch nicht weiterhelfen. Schließlich gibt ihr Onkel, ein Reichsrichter, den Rat, ihrem Mann das Nötigste, Waschsachen und Brot zu bringen. In der kurzen Zeit, die ihr verbleibt, liest sie Studentenbriefe und verbrennt sie danach, so daß bei einer neuerlichen Durchsuchung der Wohnung nichts mehr gefunden wird.
Sie versucht, ihn zu besuchen, wird aber abgewiesen. Fünf Tage nach seiner Verhaftung wird Frau Huber ins Gefängnis in der Ettstraße gebracht, während ihr Mann im Gestapogefängnis in der Brienner Straße, dem Wittelsbacher Palais, sitzt. Als sie später dorthin überstellt wird, ist ihr Mann schon im Gefängnis Neudeck. Dort sitzt er mit sechs Sittlichkeitsverbrechern in einer Zelle. Nach seiner Verhandlung kommt er nach Stadelheim. Die Briefe, die Kurt Huber von seiner Frau bekommt, verraten nichts von ihrer Inhaftierung, da ihr dies verboten wird. Die Tochter muß allen Freunden und Bekannten erzählen, ihre Eltern seien verreist. Als sie einmal bei einem Besuch im Gefängnis ihrer Mutter gegenüber ausruft, sie habe genug von dem ewigen Lügen, droht ihr der Gefängniswärter mit Besuchsverbot.
Alle Briefe, die Kurt Huber aus seiner Gefängniszelle schreibt, drücken Sorge um die Familie aus. Dem Professor ist sein Doktortitel und sein Anspruch auf Pension für die Familie genommen worden. »Ich kenne keinen Professor Huber, auch keinen Doktor Huber, ich kenne nur einen Angeklagten Huber. Dieser aber verdient es gar nicht, ein Deutscher zu sein. Er ist ein Lump!« brüllt Richter Freisler bei der Verhandlung, als Alexander Schmorell von »Professor Huber«, nach Intervention Freislers von »Dr. Huber« spricht.
Inoffiziell wird ihm von den Wächtern erlaubt zu arbeiten. Ein diesbezüglicher offizieller Antrag Frau Hubers ist abgelehnt worden. Das intensive Arbeiten hilft ihm, die Wartezeit bis zur Verhandlung und dann bis zu seiner Hinrichtung zu überbrücken und seine bewundernswerte Ruhe und Zuversicht zu bewahren. Seine Frau und seine Schwester Paula werden nach der Verhandlung wieder freigelassen. Somit können sie ihm Bücher, die er aus der Staatsbibliothek und von zu Hause braucht, besorgen. Vorher gab es Schwierigkeiten, da nur seine Schwägerin für die Bücherbeschaffung da ist und diese oft nicht findet. Nach seiner Verurteilung arbeitet Kurt Huber umso intensiver. Er will um jeden Preis sein Buch über Leibniz beenden.
Kurze Zeit vor seinem Tod sind nur noch zwei Kapitel zu schreiben. Er bittet um Aufschub. Aber er wird ihm verwehrt. Ebenso findet ein Gnadengesuch des Cotta-Verlags kein Gehör, der für Kurt Huber als bedeutenden Wissenschaftler und Schriftsteller um eine Begnadigung bittet, damit er an seinen Werken weiterarbeiten kann. Auch dies wird abgelehnt. Aber solange es geht, schreibt Kurt Huber. Der katholische Gefängnispfarrer, Pater Ferdinand Brinkmann, berichtet darüber: »Wenn ich ihn in der engen Zelle am kleinen Tisch arbeiten sah, den sicheren Tod vor Augen, aber trotzdem die Feder, seine gefährliche Waffe, emsig und sicher über das Papier führend, dann war mir das ein erschütterndes Bild von der geistigen Situation Deutschlands: Der Geist war eingekerkert und zum Tode verurteilt! Was für ein gewaltiger Einfluß von der Haltung dieses Christophorus auf seine jungen Klienten ausgegangen sein mußte, bewiesen alle die, die mit ihm denselben Weg gehen mußten. Wie ihr Meister wichen und wankten sie nicht und bekannten sich freimütig zu ihrem Schritt. Keine Gestapotortur konnte ihr heiliges Schweigen brechen, und man hat es versucht bis kurz vor die Tore des Todes.«
Zum Schreiben sind ihm nur Bleistift und genormte Blätter erlaubt. Überraschenderweise wird Clara Huber später alles, was ihr Mann in der Haft geschrieben hat, ausgehändigt. Kurt Huber hat sich nicht nur mit Atomtheorie und der logischen Kombinatorik von Leibniz beschäftigt, sondern auch Kapitel über die Volksliedtypologie fertiggestellt und Aufsätze für einen Volksliedband geschrieben. Außerdem führt er noch lange Gespräche mit Pater Brinkmann über religiöse, christliche und ethische Probleme. Nach Brinkmanns Worten findet er in der Religion eine gewisse Stärkung und Trost. Nur die Sorge um die Familie stört seine unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit. Ungeduldig erwartet er immer wieder Briefe, die berichten, ob es ihr gut geht. Viel denkt er an glückliche Stunden zurück, besonders an die Reisen, die er früher unternommen hat. Seine Ruhe, das viele Lesen, seine Lage und seine Sorgen schlagen sich in den Gedichten nieder, die er für seine Kinder und seine Frau schreibt. Nur die Musik fehlt ihm sehr, und da er sehr naturverbunden ist, vermißt er die langen Spaziergänge und Bergtouren. Jetzt freut er sich schon über den alle zwei Tage durchgeführten einstündigen Spaziergang auf dem Gefängnishof, der ihm die einzige Bewegung verschafft. Alles ist genauestens reglementiert. So darf er nur alle vierzehn Tage Briefe schreiben oder empfangen. Besuch ist auch nur nach Genehmigung erlaubt. Deshalb bringen ihm seine Frau und seine Schwester öfter Bücher, Arbeitsmaterial, Kleidung oder etwas zu essen, ohne daß sie sich sehen. Seine Briefe drehen sich fast alle um dieselben Themen: seine Arbeit, Alltägliches wie die Fortschritte der Kinder in Musik, Dinge, die er dringend benötigt und die Sorge um seine Familie, die kein Geld bekommt und sich um ihn sorgt. Ein Brief vom 12.3.43 ist exemplarisch für die anderen. Darin bedankt er sich für zwei Briefe, von seiner Schwester und seiner Tochter, und für die Eßsachen, die er erhalten hat. Er lobt seine Tochter und schreibt, daß er Wäsche, einen Bleistift, eine Bürste und eine Nagelschere brauche. Viermal darf ihn seine Frau besuchen. Es ist ihm jedesmal eine große Freude und Stärkung, obwohl er auf seine Frau bedrückt wirkt . Natürlich ist immer ein Beamter anwesend, aber einer wendet sich auch schon mal ab, so daß sie ungestört ein paar Worte wechseln können.
In der Zeit vor der Verhandlung entwirft der Professor seine Verteidigungsrede auf das sorgfältigste. Er wendet einige Zeit dafür auf, sucht Wörter und Gedichte bekannter Deutscher, findet und verwirft. Schließlich entsteht eine Rede, die nicht nur ihn, sondern auch seine Mitkämpfer verteidigt: (Hervorhebung – die Herausgeber)
»Als deutscher Staatsbürger, als deutscher Hochschullehrer und als politischer Mensch erachte ich es als Recht nicht nur, sondern als sittliche Pflicht, an der politischen Gestaltung der deutschen Geschichte mitzuarbeiten und offenkundige Schäden aufzudecken und zu bekämpfen. Ich glaube im Namen all der jungen Akademiker, die hier angeklagt sind, zu sprechen, wenn ich behaupte: Die Bekämpfung des inneren Bolschewismus, der im nationalsozialistischen Staat von heute immer bedrohlicher sich ausbreitet, war das sittliche Ziel unseres Handelns.
Ich bitte und beschwöre Sie in dieser Stunde, diesen jungen Angeklagten gegenüber im wahren Wortsinn schöpferisch Recht zu sprechen, nicht ein Diktat der Macht, sondern die klare Stimme des Gewissens sprechen zu lassen, die auf die Gesinnung schaut, aus der die Tat hervorging, und diese Gesinnung war wohl die uneigennützigste, idealste, die man sich denken kann: Das Streben nach absoluter Rechtlichkeit, Sauberkeit, Wahrhaftigkeit im Leben des Staates.
Ich fasse zusammen: Was ich bezweckte, war die Weckung der studentischen Kreise nicht durch eine Organisation, sondern durch das schlichte Wort; nicht zu irgendeinem Akt der Gewalt, sondern zur sittlichen Einsicht in bestehende schwere Schäden des politischen Lebens. Rückkehr zu klaren sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch, das ist nicht illegal, sondern umgekehrt die Wiederherstellung der Legalität. Ich habe mich im Sinne von Kants kategorischem Imperativ gefragt, was geschähe, wenn diese subjektive Maxime meines Handelns ein allgemeines Gesetz würde. Darauf kann es nur eine Antwort geben. Dann würde Ordnung, Sicherheit, Vertrauen in unser Staatswesen, in unser politisches Leben zurückkehren. Jeder sittlich Verantwortliche würde mit uns seine Stimme erheben gegen die drohende Herrschaft der bloßen Macht über das Recht, der bloßen Willkür über den Willen des sittlichen Guten. Wir würden im einzelnen zu manchen Forderungen zurückkehren, die die Partei noch vor zehn Jahren mit Recht gestellt hat. Sie haben sich im Laufe dieser Jahre nicht nur nicht erfüllt, sondern in ihr Gegenteil verkehrt. Die Forderung der freien Selbstbestimmung auch des kleinsten Volksteils ist in ganz Europa vergewaltigt, nicht minder die Forderung der Wahrung der rassischen und völkischen Eigenart. Die grundlegende Forderung wahrer Volksgemeinschaft ist durch die systematische Untergrabung des Vertrauens von Mensch zu Mensch zunichte gemacht. Es gibt kein furchtbareres Urteil über eine Volksgemeinschaft als das Eingeständnis, das wir uns alle machen müssen, daß keiner sich vor seinem Nachbarn, der Vater nicht mehr vor seinen Söhnen, sicher fühlt. –
Das war es, was ich wollte, mußte.
Es gibt für alle äußere Legalität eine letzte Grenze, wo sie unwahrhaftig und unsittlich wird. Dann nämlich, wenn sie zum Deckmantel einer Feigheit wird, sie sich nicht getraut, gegen offenkundige Rechtsverletzung aufzutreten. Ein Staat, der jegliche freie Meinungsäußerung und jede sittlich berechtigte Kritik, jeden Verbesserungsvorschlag als „Vorbereitung zum Hochverrat“ unter die furchtbarsten Strafen stellt, bricht ein ungeschriebenes deutsches, germanisches Recht, das „im gesunden Volksempfinden“ noch immer lebendig war und lebendig bleiben muß . . . .
Ich habe das eine Ziel erreicht, diese Warnung und Mahnung nicht in einem privaten, kleinen Diskutierclub, sondern an verantwortlicher, an höchster richterlicher Stelle vorzubringen. Ich setze für diese Mahnung, für diese beschwörende Bitte zur Rückkehr, mein Leben ein. Ich fordere die Freiheit für unser deutsches Volk zurück. Wir wollen nicht an Sklavenketten unser kurzes Leben dahinfristen, und wären es goldene Ketten eines materiellen Überflusses.
Sie haben mir den Rang und die Rechte des Professors und den »summa cum laude« erarbeiteten Doktorhut genommen und mich dem niedrigsten Verbrecher gleichgestellt. Die innere Würde des Hochschullehrers, des offenen, mutigen Bekenners seiner Welt- und Staatsanschauung, kann mir kein Hochverratsverfahren rauben. Mein Handeln und Wollen wird der eherne Gang der Geschichte rechtfertigen , darauf vertraue ich felsenfest. Ich hoffe zu Gott, daß die geistigen Kräfte, die es rechtfertigen, rechtzeitig aus meinem eigenen Volke sich entbinden mögen. Ich habe gehandelt, wie ich aus einer inneren Stimme heraus handeln mußte.
Ich nehme die Folgen auf mich nach dem schönen Wort Johann Gottlieb Fichtes:
„Und handeln sollst du so,
Als hinge von dir und deinem Tun allein
Das Schicksal ab der deutschen Dinge,
Und die Verantwortung wär‘ dein!“
Huber entscheidet sich für Rechtsanwalt Dr. Rhoder als seinen Verteidiger. Dieser hat schon Hitler 1923 verteidigt, und er hält ihn für geeignet, da er hofft, dieser habe eine gute Verbindung zum »Führer«.
Am 3. Juni schreibt er seiner Frau: »An Justizrat Konrad Rhoder, Kreuzstraße 30, sind RM 24,80 für Telefon Berlin zu zahlen. Kannst Du das baldigst veranlassen? Er hat gar kein Honorar berechnet, was mich sehr geniert, und war so sehr liebenswürdig zu mir. Ich will ihm selbst noch schreiben. «Wovon Kurt Huber nichts ahnt, sind die Schwierigkeiten der Verteidigung. Sein Pflichtverteidiger Dr. August Deppisch hat die Anklageschrift vom 8. April am Abend des 14. April bekommen. Er soll zwei Mitglieder der »Weißen Rose«, Kurt Huber und Helmut Bauer, verteidigen und innerhalb von zwei Tagen beim Volksgerichtshof eine Erklärung einreichen. Letzteres ist praktisch unmöglich. Den Tag darauf besucht er seinen Klienten. Professor Huber meint, er habe schon seit sechs Tagen Justizrat Rhoder als Verteidiger, würde sich aber freuen, ihn als seinen zweiten Wahlverteidiger zu sehen. Dies muß Herr Deppisch wegen der Unmöglichkeit, in dieser kurzen Zeit – es waren noch vier Tage bis zur Verhandlung – eine Genehmigung vom Volksgerichtshof zu erlangen, ablehnen. Trotzdem informiert sich der Pflichtverteidiger und sendet in Absprache mit Dr. Rhoder eine Erklärung nach Berlin. Bei diesem Gespräch mit Rhoder stellt er fest, daß dieser sich noch gar nicht sicher ist, ob er den Fall übernimmt. Deshalb bespricht der Pflichtverteidiger sich am nächsten Tag erneut mit Professor Huber. Am 17. April entscheidet sich Rhoder, den Fall zu übernehmen.
