Der erste Prozeß

Nach ihrer Verhaftung werden die Geschwister Scholl im Wittelsbacher Palais, der Gestapoleitstelle, pausenlos verhört. Sie verteidigen sich zunächst so geschickt, daß Zweifel an ihrer Täterschaft aufkommen und man mit dem Gedanken spielt, sie wieder zu entlassen. Die Durchsuchung ihrer Wohnung im Rückgebäude der Franz-Joseph-Straße 13 erbringt jedoch dann erdrückende Beweise. Neben einer großen Zahl postfrischer Acht-Pfennig-Marken zum Versenden der Flugblätter, findet die Gestapo Briefe von Christoph Probst. Durch einen Schriftvergleich wird dieser als Verfasser des Flugblattentwurfs identifiziert. Seine Verhaftung am folgenden Tag in Innsbruck, wo er stationiert war, erschüttert besonders Sophie Scholl. Christoph Probst war nicht direkt an der Herstellung und Verteilung der Flugblätter beteiligt. Die Münchner Gruppe wollte den Vater von drei kleinen Kindern – die jüngste Tochter Katja wird am 21. Januar 1943 geboren – nicht in riskante Unternehmungen mit hineinziehen.

Unter dem Druck des Beweismaterials bekennen sich Hans und Sophie Scholl freimütig zu den Aktionen und nehmen alle Schuld auf sich, um die anderen zu entlasten.

Der NS-Staat will, gerade nach der Niederlage bei Stalingrad und der Unruhe unter den Münchner Studenten nach der Giesler-Rede, an seiner Entschlossenheit, jede Opposition mit brutalen Mitteln zu unterdrücken, keinen Zweifel aufkommen lassen. Bereits am Montag, dem 22. Februar, findet der Prozeß vor dem Volksgerichtshof statt, dessen Präsident, Roland Freisler, eigens aus Berlin angereist kommt. Die Verhandlung im Saal 216 des Münchner Justizpalastes dauert von 10.00 bis 13.30 Uhr, das Todesurteil steht von vorneherein fest. Für die drei Studenten lautet die Anklage auf Vorbereitung zum Hochverrat, landesverräterische Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung. Dem sich wild gebärdenden Freisler treten die Geschwister Scholl und Christoph Probst gefaßt und mutig gegenüber. Über ihre Motive sagt Sophie Scholl: »Einer muß ja doch mal schließlich anfangen. Was wir sagten und schrieben, denken ja so viele. Nur wagen sie es nicht, es auszusprechen.« Und dem Gericht ruft sie zu : »Unsere Köpfe rollen heute, aber Ihre rollen auch noch.«

Um 17 Uhr werden Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst in Stadelheim enthauptet. Der evangelische Gefängnispfarrer Dr. Karl Alt erinnert sich an die Begegnung mit den Verurteilten. Sein Bericht verdeutlicht deren tiefe christliche Gesinnung:

»Besonders tragisch war dabei, dass zu eben dieser Zeit der jüngere Bruder Werner der Geschwister Scholl von der russischen Front auf Urlaub nach Ulm gekommen war und nebst seinen Eltern die beiden Geschwister in München besuchen wollte. Am Münchner Bahnhof erfuhren die Ahnungslosen, daß schon die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz des Präsidenten Freisler, Berlin, begonnen habe. Dort mußten sie das Todesurteil der beiden und des Freundes Christoph Probst erfahren. Es blieb ihnen gerade noch Zeit, ihre Kinder im Gefängnis Stadelheim, wohin man sie zur Urteilsvollstreckung geschafft hatte, aufzusuchen und zu sprechen – ohne wiederum zu ahnen, daß die beiden bereits in einer Stunde nicht mehr unter den Lebenden weilen würden! Nur die eine Stunde verblieb ihnen und dem Mitverurteilten Probst, um ihre Angelegenheiten zu ordnen und sich zum letzten Gang vorzubereiten. Christoph Probst, der ungetauft war, ließ sich noch in dieser letzten Stunde von dem katholischen Gefängnisgeistlichen taufen und die Sterbesakramente reichen. Ich selbst war fernmündlich und eiligst zu den Geschwistern Scholl gerufen worden. Bebenden Herzens betrat ich die Zelle des mir völlig unbekannten Hans Scholl – wie sollte ich ihm in dieser allzu kurz bemessenen Frist seelsorgerlich nahe kommen, daß ich ihn und seine Schwester richtig zu diesem furchtbaren Ende bereitete? Welches Schriftwort mochte gerade ihr Herz in dieser Lage am besten ergreifen und festigen für ihren letzten Gang? Aber Hans Scholl enthob mich aller Zweifel und Sorge. Nach kurzem Gruß und festem Händedruck bat er mich, ihm zwei Bibelabchnitte vorzulesen: Das „Hohe Lied der Liebe“ aus I. Korinther, Kapitel 13 und den 90. Psalm: „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaff en wurden, bist du Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache…“

Ich las zunächst mit Hans laut dieses „Gebet Moses“, des Mannes Gottes, wie die Überschrift des 90. Psalms in der Lutherbibel lautet, mit dem abschließenden Flehen: „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Herr, kehre dich doch wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig… Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagtest, nachdem wir so lange Unglück leiden…“ Das betete Hans Scholl nicht nur für sich, sondern für sein geplagtes, unglückliches Volk. Den anderen gewünschten Bibelabschnitt aus dem ersten Korintherbrief legte ich meiner Beicht- und Abendmahlsvermahnung zugrunde, denn beide Geschwister begehrten – wie es vor allen Hinrichtungen üblich ist – den Empfang des Altarsakraments. Ich ging davon aus, daß sich jetzt das Wort des Heilandes erfülle: „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde“. Auch der ihnen bevorstehende Tod sei, so sagte ich, ein Lebenlassen für die Freunde, ein Opfertod fürs Vaterland genau so wie der an der Front, nur daß durch ihn viele gewarnt werden sollen vor weiterem wahnwitzigem Blutvergießen. Einer aber habe für die ganze Menschheit wie ein Verbrecher den schmählichen Tod am Kreuzes- galgen erlitten, ER sei auch für uns gestorben und habe durch seinen Opfertod uns den Eingang zum ewigen Leben eröffnet, so daß uns „kein Tod töten“ kann. Seiner Liebe verdanken wir, daß wir vor dem Richterstuhl des Ewigen bestehen können und gnädig angenommen werden, auch wenn irdische Richter uns verurteilen, die sich ihrerseits auch einmal dem ewigen Richterspruch stellen und beugen müssen. Die Liebe und Gnade Christi aber verlange und ermögliche es auch, daß wir selbst unsere Feinde lieben und unseren ungerechten Richtern verzeihen können. Von dieser geradezu übermenschlich anmutenden Liebe rede der Apostel im 13. Kapitel des I. Korintherbriefes, das seinen Hymnus mit den Worten beginnt: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle…“ Und so beteten wir miteinander Vers für Vers dieses Preises der Agape. Als wir zu den Worten kamen: „Die Liebe ist langmütig und freundlich… sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu…“ fragte ich ausdrücklich, ob dies wirklieh zutreffe und kein Haß noch Bitterkeit auch gegenüber den Verklägern und Richtern das Herz erfülle. Fest und klar lautete die Antwort: „Nein, nicht soll Böses mit Bösem vergolten werden und alle Bitterkeit ist ausgelöscht.“ Angesichts solcher eigens betonter Gesinnung konnte die Absolution leichten Herzens erteilt werden und das Mahl der Liebe und Vergebung, das nach der Lehre der Kirchenväter und Luthers auch ein „Heilmittel gegen den Tod und für die Unsterblichkeit“ ist, wahrhaft im Geiste und Sinne seines Stifters gefeiert werden. Die Armesünderzelle weitete sich zum heiligen Gottestempel. Man vermeinte, das Flügelrauschen der Engel Gottes zu vernehmen, die sich bereiteten, die Seelen versöhnter Gotteskinder emporzuführen in den Saal der Seligkeit. – Wer so stirbt, der stirbt wohl – auch wenn sein Haupt unter dem Henkerbeile fällt.

In ähnlicher Weise vollzog sich auch die Abschiedsstunde der ebenso lieblichen wie tapferen Schwester Sophie. Sie hatte vormittags noch vor dem Volksgerichtshof unerschrocken ausgerufen: „Was wir schrieben und sagten, das denken Sie alle ja auch, nur haben Sie nicht den Mut, es auszusprechen“ – wogegen erstaunlicherweise nicht einmal der Oberreichsanwalt Einspruch erhob! Jetzt erklärte sie, es sei ihr gänzlich gleichgültig, ob sie enthauptet oder gehenkt würde. Sie hatte bereits ihren Eltern und ihrem Freund, einem 25-jährigen Hauptmann, der nichtsahnend infolge einer bei Stalingrad erlittenen Verwundung in einem Frontlazarett lag, Abschiedsbriefe geschrieben, die nicht angekommen sind. Ohne eine Träne zu vergießen, feierte auch sie das heilige Mahl, bis der Wächter an die Zellentür pochte und sie hinausgeführt wurde, wobei sie aufrecht und ohne mit der Wimper zu zucken noch ihre letzten Grüße an den ihr unmittelbar folgenden, innigst geliebten Bruder ausrichtete.

Dessen Abschiedsbrief, der ebenfalls nicht weitergeleitet wurde, enthielt folgende Sätze: „Meine allerliebsten Eltern! … Ich bin ganz stark und ruhig. Ich werde noch das heilige Sakrament empfangen und dann selig sterben. Ich lasse mir noch den 90. Psalm vorlesen. Ich danke Euch, daß Ihr mir ein so reiches Leben geschenkt habt. Gott ist bei uns, Es grüßt Euch zum letzten Male Euer dankbarer Sohn Hans.“ Dies war vor dem Sakramentsempfang geschrieben worden. Nach demselben wurde noch während ich bei Sophie weilte, hinzugefügt: „P.S. Jetzt ist alles gut! Ich habe noch die Worte des 1. Korintherbriefes gehört: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle…“

Bevor er das Haupt auf den Block legte, rief er noch mit lauter Stimme:

„Es lebe die Freiheit!“

So starben die Geschwister Scholl.

Zwei Tage später wurden die beiden abends im abgeschlossenen Friedhof am Perlacher Forst unter Aufsicht der Gestapo zu Grabe getragen. Schneeweiß leuchteten die Berggipfel des Zugspitzmassivs herüber, glutrot ging der Sonnenball unter. Nur weniges konnte und durfte vor dem engsten Familienkreis verkündet werden. Es wurde auf die Berge hingewiesen, „von denen uns Hilfe kommt“ in allen Nöten, und auf die Sonne, die nie untergeht, sondern auch in die traurigsten und dunkelsten Herzen Trost und Kraft hineinstrahlt, von der Paul Gerhardt singt: „Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herz Jesu Christ.“ Er kann auch die untergegangene »Sonne« wieder aufgehen lassen… Und dann erklangen über dem gemeinsamen Grab die Worte des 90. Psalmes: „Herr Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist Du Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder…“

Abschließend aber erscholl das „Hohe Lied der Liebe mit seinem krönenden Finale „…Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Hans Scholl

Zuletzt wurde das Wort des Herrn, das die beiden jungen Menschen erfüllt hatte, verkündigt: „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde.«

In der Presse werden die Ereignisse dieser Tage nur kurz erwähnt. Man ist in Berlin äußerst besorgt, daß sich auch die dem Nationalsozialismus bisher treu ergebene Jugend gegen das Regime wenden könnte, zumal sich häufende Nachrichten von Fronteinbrüchen im Osten eine militärische Wende des Krieges vermuten lassen. Der eigens aus Berlin angereiste Präsident des Volksgerichtshofes ist hierfür eine weitere Bestätigung, wie sehr die Flugblätter der Weißen Rose sogar die höchsten Berliner Staatsstellen in Unsicherheit brachten.

Sophie Scholl

Christoph Probst

Anklageschrift gegen Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst

Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshof

Urteil gegen die Geschwister Scholl und Christoph Probst

Völkischer Beobachter 23. Februar 1943

Ministerialnotiz über die Reaktion des Propagandaministers Goebbels auf die Hinrichtung